Unsere Politiker haben einen neuen Schuldigen ausgemacht: den Wutbürger. Was muss man sich als Bürger dieser Republik nicht alles anhören. Es wird einem vorgeworfen, dass man als neuer(?) Wutbürger das ganze Land lahm legen würde. Der Wutbürger ist gegen Stuttgart-21, gegen den Flughafen BBI (Berlin-Brandenburg-International), gegen Atomkraftwerke und sowieso gegen jegliche industrielle Großprojekte.
Mir ist bis heute nicht klar, wieso ich und die anderen Mitbürger wie von Geisterhand zu Wutbürger mutiert sein können. Es muss alles mit diesem alternativlos angefangen haben, welche unsere Bundeskanzlerin im letzten Sommer ständig von sich gegeben hat. Dann kam die große Protestwelle zum unterirdischen Bahnhof Stuttgart-21. Seitdem wird jeder demonstrierende Bürger zum Wutbürger abgestempelt. Ich nenne es hingegen schlicht und einfach gelebte Demokratie.
Die Demokratie bezeichnet das Ideal einer durch die Zustimmung der Mehrheit der Bürger und die Beteiligung der Bürger legitimierten Regierungsform, der „Volksherrschaft“. [Quelle: Wikipedia] Wir sind kein blindes Stimmvieh, welches dekadenweise zur Urne gehen darf, um auf einem Blatt Papier ein Kreuzchen machen zu dürfen. Nein, wir dürfen uns auch beteiligen. Dies führt in seiner direkten Form bis zur Volksabstimmung.
Um was geht es der Regierung, wenn sie vom Wutbürger spricht? Die Exekutive nervt sich an den lautstarken Protesten. Ganz einfach. Doch Demonstrieren hat eine lange Tradition in Deutschland. Ebenso ist es ein legitimes Mittel in einer Demokratie. Wer erinnert sich nicht an die „legendären“ Demos gegen die Wiederaufarbeitungsanlage bei Wackersdorf, oder gegen die Stationionierung der Pershing-Raketen, oder auch die Montagsdemonstrationen in der ehemaligen DDR.
Wird heute mehr protestiert als früher? Oder sind die heutigen Demonstrationen konfliktgeladener? Beides trifft wohl nicht zu. Auch wenn manche Demonstration den Eindruck erwecken möchte, wie beispielsweise jene zu den jährlich stattfindenten Castortransporte. Einen kleinen Unterschied gibt es eventuell: heute stehen auch industrielle Großprojekte auf der Protestliste, weil es heute auch keine direkte Trennung mehr zwischen Industrie und Politik gibt. Und dort liegt wohl auch die Problematik, wenn die Politiker vom Wutbürger sprechen. Die Industrie kann sich schlecht gegen die Bürger stellen und sagen „Nix da – basta!“ Ein Politiker hingegen kann das Unwort „Wutbürger“ in die Runde werfen und somit den politischen Protest gegen den bürgerlichen Protest ausspielen.
Der Bürger sollte sich von der hohlen Drohung „er/sie ist ein Wutbürger“ nicht einschüchtern lassen. Politiker sind auch nur Menschen. Und es ist wahrscheinlich auch frustrierend, wenn man nur gewählt wird und dann 4 Jahre in einem Büro absitzen muss – so ganz ohne das Recht auf Demonstrieren.