Evolutionsbedingte Probleme des Homo metropolis

Als Homo sapiens neanderthalensis überlebten nur jene, die kräftig genug waren, Mammuts zu jagen und den strengen Wintern und den feuchten Höhlen zu widerstehen. Später als Homo sapiens überlebten nur jene, welche die Gefahr einer Raubkatze einschätzen und rechtzeitig ausweichen konnten. Und noch viel später kämpfte der Mensch der Neuzeit mit Seuchen, Hungersnöten und Naturgewalten.

Der Mensch hat sich in den Jahrtausenden seiner Evolutionsgeschichte stets weiterentwickelt. Er hat sich angepasst, dazu gelernt oder gar sich die Natur gefügig gemacht. Doch all der Fortschritte entgegen hat der moderne Homo metropolis mit ganz anderen Gefahren zu kämpfen. Der Großstadtmensch hat als neuzeitliche Gegner: Straßenbahnen, Autos, Schnee und Eis, ja sogar seine Mitmenschen.
Übertroffen wird diese Spezies nur noch von der neusten Evolutionsstufe – dem Homo metropolis electronicus. Diese Sonderform des Menschen muss sich in multiplen Gefahrenquellen zurecht finden. Und nicht selten wird er dabei Opfer der eigenen Überheblichkeit. Die Anpassung an Umwelt und Technik erfolgt heute allerdings bedeutend schneller als noch vor 10.000 Jahren.

Wer kennt ihn nicht, den Homo telephonus, der während der Autofahrt wichtige Telefonate führen muss. Das Auto lenken, auf andere Verkehrsteilnehmer achten, Ampeln deuten, Verkehrsschilder interpretieren und mit einer Hand das Handy am Ohr. Humanoide mit ausgeprägter Nikotinsucht geraten dabei in ernsthafte Konflikte. Handy oder Klimmstengel. Oder beides. Dann aber mit Knie als zusätzliche Hilfe. Ob der Homo telephonus nun aber im Stadtverkehr mit 50 km/h auf seinen Vordermann auffährt, oder bei Tempo 200 auf der Autobahn in das Stauende kracht, ist für das Endergebnis relativ irrelevant.
Der telefonierende Großstadtmensch ist jedoch auch auf offener Straße anzutreffen. Das Verhalten ist identisch. Durch das Gespräch am Ohr ist er abgelenkt und vernachlässigt seine nähere Umwelt mehr oder weniger komplett. Straßen werden längs gekreuzt, ohne auf den Verkehr zu achten. Fahrradspuren werden als Überholspur für behäbige Rolatorennutzer missbraucht, natürlich mit Rücken zur Fahrtrichtung der Fahrradfahrer. In der Gefährlichkeit für den Straßenverkehr und seiner Geistesabwesenheit ist der Homo telephonus eng verwandt mit dem Nächsten seiner Gattung.

Der Homo musicus. Menschen jüngeren Alters wollen oft und laut ihre Musik hören. Der Weg von A nach B ist dabei ein willkommenes Angebot, den MP3-Player anzuschmeißen. In der Straßenbahn mag diese Freizeitbeschäftigung bedeutungslos sein, sofern man es mit der Lautstärke nicht übertreibt und die anderen Fahrgäste nicht belästigt. Vor der Straßenbahn kann überhöhter Musikgenuss allerdings schnell zu körperlichen Langzeitschäden führen. 50 Tonnen fahrendes Metall bremsen nicht innerhalb von zwei Sekunden, können sich jedoch in zwei Sekunden dem Musikgenießer rasend schnell und relativ lautlos nähern. Darüber hinaus ist die Massenverschiebung – nach dem Trägheitsgesetz – nicht ganz unerheblich. Das 200 Gramm leichte Abspielgerät kann in dieser Gleichung übrigens vernachlässigt werden. Bei der Ermittlung der Todesursache kommt dem kleinen Technikding jedoch eine ganz große Bedeutung hinzu.

Eine biologische Verschärfung stellt der Homo musicus velatus dar. Der Musik hörende Fahrradfahrer. Gefühlte 20 Prozent meiner Velo-Freunde sitzen vergnügt auf dem Rad, schlängeln sich an Autos und Passanten vorbei und haben dabei die Musikmuschel am Ohr. Und zwar nicht als Ohrwärmer, da gerade im Hochsommer dieses Phänomen verstärkt zu betrachten ist. „Ich höre alles!“ habe ich schon des öfteren als kompetente Antwort bekommen. Hören vielleicht ja. Aber wie ist es mit dem rechtsabbiegenden LKW, der rechtswidrig jeglicher STVO einfach den gut amüsierten Musikus auf seinem Drahtesel übersieht? Dass man durch Musikgenuss im Straßenverkehr massiv abgelenkt ist, mag den wenigsten Homo musicus velatus nicht bewusst oder gar egal sein. Die Gleichgültigkeit ändert sich spätestens bei einem schmerzhaften Aufenthalt im örtlichen Krankenhaus. Dort hat man wiederum genügend Zeit, ausgiebig seine Musikbibliothek hoch und runter zu hören.

Der Mensch ist häufig der Meinung, er wäre multitasking-fähig. Also das Beobachten, Reagieren und Ausführen auf unterschiedliche Situationen. Dem ist leider nicht so. Je stärker wir uns auf eine Aktivität konzentrieren müssen, desto stärker vernachlässigt unser Gehirn die Überwachung der anderen Sinnesorgane. Da haben auch Jahrtausende Evolutionsgeschichte nicht viel verändert.
Mobile Gadgets wie MP3-Player und Handy begleiten uns jederzeit und verleiten zum jederzeitigen Gebrauch. Die Wechselwirkungen im Straßenverkehr können jedoch fatal bis tödlich sein. Im manchen Fällen könnte man auch von Lernresistenz sprechen. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns kaum von unseren Vorfahren.

Please wait...

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.