Flüchtlinge in Hellersdorf – Willkommen im Kriegsgebiet

Ein Gedankenexperiment: Ihre Familie lebt seit Jahren in einem Kriegsgebiet. Mal sind Granateneinschläge, mal Maschinengewehrsalven zu hören. Mal hören Sie von Bekannten, dass der oder jene bei einem Angriff gestorben ist. Hunger ist ein ständiger Begleiter. Ebenso die Armut und Arbeitslosigkeit. Die Zukunftsaussichten sind dunkelgrau bis schwarz. Und dann gibt es da auch diese Erzählungen von einer Gegend, die befriedet ist und in Wohlstand lebt. Europa, das Land der Glücksseeligen.
Eines Tages fassen Sie Ihren ganzen Mut zusammen und machen sich auf die Flucht. Sie verlassen Ihre Heimat, alle Verwandten und Bekannten lassen Sie zurück, auch die wenigen Habseligkeiten. Der Wunsch nach einem Leben in Frieden ist größer als die Verlustängste. Nach einer tage- oder gar wochenlangen Reise erreichen Sie die europäischen Grenzen und die Bürokratie nimmt ihren Lauf. Registrierung, Aufnahme in Auffanglager, Verschiebung in Übergangslager bis zur endgültigen(?) Verteilung in Flüchtlingsheime. Die einen landen in Österreich, andere in Frankreich und wieder andere werden nach Deutschland transportiert. Sie lassen all die Strapazen über sich ergehen; alles immer noch besser als Krieg und Armut.

400 von diesen Kriegsflüchtlingen sind letzten Montag in Berlin-Hellersdorf angekommen. Im Plattenbau-Viertel sind sie in die ehemalige Max-Reinhardt-Oberschule eingezogen. Sie werden jedoch nicht von allen willkommen geheißen. Gleich vom ersten Tag an hat sich ein brauner Mob vor dem Flüchtlingsheim versammelt und skandiert lauthals radikale Parolen. Am Samstag kam es dann zu einer größeren Kundgebung zwischen circa 150 Neonazis und circa 700 (meist linken) Gegendemonstranten. Hinzu kommt eine Hundertschaft der Polizei und vielleicht ebenso viele Pressevertreter. An Ruhe ist vor dem Asylheim nicht zu denken; weder tags noch nachts. Und von außen betrachtet muss die Situation wie eine Kriegsversammlung anmuten.

Hellersdorf-Marzahn ist geprägt von einer tief verwurzelten linksorientierten Gesellschaft. Die Partei Die Linke kommt hier bei Wahlen stets auf mindestens 40 Prozent. Auch gilt die Gegend nicht als besonders wohlhabend oder kulturell attraktiv. Vielleicht ist es gerade die Einfachheit der Leute, die zu solchen Szenen führen. Wo sich simple Ideologien manifestieren, sind radikale Schwingungen nicht fern. Sowohl linksorientierte Weltbilder als auch rechtsorientiertes Gedankengut. Ausgerechnet ein paar Kriegsflüchtlingen haben dieses Gemisch zum Explodieren gebracht. Und so tragen sie ihre piefigen Grabenkämpfe direkt vor den neuen „Nachbarn“ aus. Die Linken gegen die Rechten und mitten drin noch viele Polizisten als Ruhestifter. Denn es werden bereits Befürchtungen laut, es könnte in Hellersdorf zu einem neuen Rostock-Lichtenhagen (1992) kommen.

Und was ist mit den Flüchtlingen? Die müssen sich wie auf einem fremden Planeten fühlen. Nichts mit „Land der Glückseeligen“, nichts mit Leben in Frieden. Sie sind vom einen Kriegsgebiet geflüchtet und spontan in einen neuen „Krieg“ verwickelt. Einige von ihnen haben wohl bereits die Rücküberweisung in das vorherige Lager angefordert, weil sie Angst haben von dem, was vor dem Heim alles passiert.

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